Antigone und RAF: Diskussion mit Prof. Elisabeth Paefgen

paefgen.jpg

Man sollte die Toten doch gleich behandeln!

Was hat die antike Tragödie „Antigone“ mit den terroristischen Anschlägen des sogenannten „Deutschen Herbstes“ im Jahre 1977 zu tun? Dies diskutierten die Schülerinnen und Schüler der Klasse 10.2 und der Klasse 10.3 mit Prof. Elisabeth K. Paefgen von der Freien Universität Berlin, die auf Einladung der Deutschlehrer Frau Reichelt und Herrn Urschel-Sochaczewski an das Lilienthal-Gymnasium gekommen war. Das Lilienthal-Gymnasium hält seit Jahren eine Kooperation mit dem Arbeitsbereich Didaktik der deutschen Sprache und Literatur der FU Berlin aufrecht, an dem Frau Prof. Paefgen arbeitet.

Die Tragödie „Antigone“ von Sophokles, erstmals aufgeführt 442 vor Christus, ist mit Abstand eines der „brutalsten“ Stücke der Literatur, wobei die Tragödie bei genauerem Hinsehen alltägliche und noch heute aktuelle Themen anspricht: Jung gegen Alt, Frau gegen Mann, Menschen und Götter, Individuum gegen Staat und vor allem aber das Leben und den Tod. Neben „Antigone“ hat Sophokles noch weitere Dramen geschrieben, wie zum Beispiel „König Ödipus“ und „Ödipus auf Kolonos“.

Das Drama „Antigone“ ist gewissermaßen die Fortsetzung der Geschichte von Ödipus, dem mythischen König von Theben, und seinen Nachfahren. Die königliche Familie von Theben hatte von Anfang an ein schweres Schicksal. Der ausgesetzte Sohn Ödipus kommt nach vielen Jahren nichts wissend nach Theben zurück und erschlägt auf der Reise dorthin seinen eigentlichen Vater und König von Theben. Ödipus und Iokaste lernen sich kennen und heiraten bald darauf. Zusammen bekommen sie vier Kinder – Polyneikes, Eteokles, Ismene und Antigone. Als das Ehepaar aber erfährt, dass sie Mutter und Sohn sind, verschwindet Ödipus, nachdem er seine Augen geblendet und Iokaste sich erhängt hat. Die beiden Söhne Eteokles und Polyneikes sterben daraufhin im Kampf um den Thron. Kreon, der Bruder von Iokaste, übernimmt nun die ehrenvolle Aufgabe und regiert fortan mit eiserner Faust. Er verhängt ein Gesetz, was die Bestattung von Polyneikes verbietet. Antigone aber hält nichts von Kreons Gesetz und beerdigt ihren Bruder trotz vieler Warnungen ihrer Schwester Ismene.

Hauptfiguren der Tragödie sind Antigone und Kreon – sie als eine traditionelle, auch religiöse Frau und er als moderner starrköpfiger Mann. Beiden beharren im Verlauf der Handlung auf ihren jeweiligen Meinungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Antigone fordert Gleichberechtigung. Sie möchte beide Brüder auf gleiche Weise beerdigen und noch einmal mit ihnen im Tod vereint sein. Kreon dagegen hat durch seine moralischen und politischen Vorstellungen kein Verständnis für Familie und Erbarmen. Die unterschiedlichen Ansichten führen zu Antigones Tod. Doch ist Antigones Meinung so falsch, dass sie dafür sterben musste? Hat nicht jeder Mensch ein Recht auf eine Beerdigung, auch wenn er in seinem Leben Fehler begangen hat?

Gewalt und der innerdeutsche Terror im Jahr 1977 sind die Ausgangssituation des Episodenfilms ,,Deutschland im Herbst“, an dem namhafte Regisseure wie Alexander Kluge und Volker Schlöndorff mitgearbeitet haben. Es war eine Zeit voller Gewalttaten durch die Rote Armee Fraktion (RAF), auch Baader-Meinhof-Gruppe genannt, die sich gegen den Staat und dessen Macht stellte. Am 18. Oktober 1977 entführte und ermordete die RAF den Manager und Wirtschaftsfunktionär Hanns Martin Schleyer. Am 13. Oktober 1977 wurde eine durch Terroristen entführte Lufthansa-Maschine durch die GSG 9 befreit und in der Nacht erschossen sich Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader, drei Gründungsmitglieder der Baader-Meinhof- Gruppe, in ihrem Gefängnis in Stuttgart-Stammheim.

Prof. Paefgen stellte dem antiken Stoff die brutale deutsche Wirklichkeit im Jahre 1977 entgegen. Der ermordete Hanns-Martin Schleyer wurde in allen Ehren am 25. Oktober mit Staatsbegräbnis beigesetzt. Die drei „Terroristen“ der Baader-Meinhof-Gruppe aber wurden zunächst wie Polyneikes behandelt – sie hatten wie er mit Gewalt gegen den Staat gekämpft. Es gab gespaltene Meinungen über Raspe, Ensslin und Baader. Trotzdem wurde ihnen schließlich ihr letzter Wunsch erfüllt und sie wurden zu dritt in einem Grab beerdigt. Es zeigt sich anhand dieses Beispiels, dass trotz Fehlern jeder Mensch in bestimmten Situationen gleich behandelt werden sollte und dazu gehört auch, dass jeder Mensch ein Recht auf eine Beerdigung haben sollte. In dem Stück „Antigone“ konnte Kreon leider nicht von dieser Meinung, die Antigone vertritt, überzeugt werden. Trotzdem lehrt uns diese uralte Tragödie viel über den Menschen und dessen Meinung und Weltbild. Auch in schwierigen Zeiten, wie im „Deutschen Herbst“ 1977, sollte man nie die Menschlichkeit verlieren und jeden Menschen gleich behandeln.

Man sollte meinen, dass die Ur-Themen wie „Mann gegen Frau“, „Mensch gegen Mensch“ uns irgendwann langweilen würden, aber was wäre die Welt ohne diese? Bestimmt eine angenehmere, doch kann ich sagen, dass es sich in naher Zukunft nicht ändern wird. Trotzdem aber sollten wir immer versuchen, uns selbst zu verbessern, und damit auch die eigene Umwelt.

Katja Kuper, Klasse 10.2

Nach oben scrollen